Zwei-Welten-Theorie

Der "Hobbit" ist im Kino angelaufen

Eine Filmrezension von Uli Hacke
14. Dezember 2012

Der "Hobbit" macht mal wieder überdeutlich klar, warum wir eigentlich so gerne ins Kino gehen: um grandiose Filme zu sehen und um in eine fremde Welt einzutauchen, die es so nicht gibt. Und obwohl Film und Buch unglaublich nah beieinander sind, gleichen sie doch zwei unterschiedlichen Welten.

Ja, es ist der "Hobbit" und es ist auch alles da, was zur Geschichte gehört. Mehr noch: selbst kürzeste Andeutungen innerhalb der Buchvorlage werden ausführlich dargestellt und wo es Lücken in der Handlung gab, sind diese sinnvoll aufgefüllt. Es ist aber auch der "Hobbit" in der Version von 2012, rasant und opulent in Szene gesetzt von einem Regisseur, der sich nicht mit dem behutsamen Ausloten neuester Kinotechnologien begnügt, sondern gleich aus den Vollen schöpft. Hier wird nicht gekleckert, sondern geklotzt - und man fragt sich unwillkürlich, wo Jackson all das in diesem kurzen Kinderbüchlein von 1937 gefunden hat, oder ob er vielleicht eine andere Ausgabe verwendet hat, die der Tolkienwelt bislang entgangen ist. Aber das ist zu kurz gedacht.

Schaut man genauer hin, so wird eine Werkstreue deutlich, die ihresgleichen sucht. Die Verfilmung ist verdammt nah am Buch, aber anstatt akribisch am Text zu kleben, geht Jackson immer wieder eigene Wege und interpretiert Abschnitte neu - er adaptiert sie für die Leinwand und schafft dadurch ein neues Verständnis für so manche Szene. Was im Text spannend ist, kann im Kino für Ermüdung sorgen; gleichzeitig würden grandiose Aufnahmen wie beispielsweise die wundervollen Landschaftsansichten Mittelerde als gedruckter Text mehrere Seiten füllen müssen.

Jackson lässt sich bereits bei der Exposition viel Zeit und beginnt ganz allmählich mit den Ereignissen, die kurz vor dem Beginn der Ring-Trilogie liegen. Man kommt aus den vielen Anspielungen auf den "Herrn der Ringe" gar nicht mehr heraus, gleichzeitig wirken der "Hobbit" und sein Sequel so aus einem Guss, dass man sich spontan fragt, wo denn eigentlich die vergangenen neun Jahre blieben sind. Sobald der Film beginnt, ist Mittelerde da und die Welt vertraut. Daran hat auch die Musik großen Anteil; sie bedient sich großzügig der bekannten Themen und Melodien, bringt aber auch viel Neues und untermalt das Geschehen auf der Leinwand mal behutsam und mal aufpeitschend.

Ganz langsam werden die Charaktere eingeführt, was bei so vielen Hauptpersonen aber auch sinnvoll ist. Das gemächliche Erzähltempo ermöglicht es auch Neulingen in Tolkiens Welt, der sich langsam aufbauenden Handlung zu folgen und die Zusammenhänge zu begreifen - erfahrene Mittelerdebewohner erfreuen sich statt dessen an den vielen Details und Anspielungen. Überhaupt zählen die vielen kleinen Dinge zu Jacksons Lieblingsangelegenheiten: keine Szene ohne irgendwelche liebevoll gestalteten Details, jeder Charakter, jede Handlung ist von irgendeiner Kleinigkeit begleitet, die den Film einfach glaubwürdig machen und der überdies imposanten Optik den letzten Schliff geben.

Ruhige Abschnitte wechseln mit actiongeladenen Sequenzen ab - und letztere haben es in sich, wenn ganze Heerscharen von Orks auf allen Ebenen sich durch schier bodenlose Schluchten hangeln, wackelige Holzkonstruktionen krachend einstürzen und die Kamera in dermaßen gewagten Bahnen um die Szenerie kreist, dass man sich unwillkürlich festzuhalten versucht. Hier holt Jackson alles aus einer Szene heraus, was nur irgendwie geht. Und obwohl die Charaktere schnell als übermächtige Helden erscheinen, die nichts und niemand aus dem Weg räumen kann und die Spezialeffekte schon gar nicht als solche zu erkennen sind, weil sie so echt wirken, kommt all das so technisch brillant umgesetzt und charmant inszeniert rüber, dass man nicht mehr auf die Glaubwürdigkeit achtet: hier ist Action gefordert, es soll krachen und phantastisch aussehen. Die Zwerge, Mr. Beutlin und Gandalf gleichen zwar Videospielfiguren, gesteuert von einem wahrhaft begnadeten Zocker an den Kontrollen, aber das ist Kino - und zwar großes. Das ist Abenteuer und Phantastik. Helden sind einfach so und müssen auch so sein. Logik ist dabei zweitrangig: wenn sich ein Großteil der Charaktere auf einem gerade in einen Abgrund stürzenden Baum befinden, muss soviel Zeit noch sein, dass zwei Helden noch in epischer Breite und entsprechend aufbereiteten Bildern mit dem Hauptschurken kämpfen. Erst nach der Heldentat wird Baum abbrechen. So lieben wir das Kino und so ist es uns aus unzähligen Filmen vertraut.

Doch das grandiose Heldentum birgt auch seine Nachteile. Der "Hobbit" feiert sich selbst als Epos, das er eigentlich nicht ist. Er versucht, seinem großen Bruder "Herr der Ringe" nachzueifern und verspricht mehr, als er halten kann. Das große Schicksal einer Welt am Abgrund mit all ihren detailliert ausgearbeiteten und manchmal tragischen Figuren im "Herrn der Ringe" gibt es im "Hobbit" einfach nicht. Hier steht das Abenteuer einer Gruppe im Vordergrund - nicht die Fährnisse ganzer Völkerschaften. Der Drache Smaug mag ein gewaltiges Ungeheuer sein, aber gegen den dunklen Herrscher Sauron muss er als Nutztier erscheinen. Das ist auch Jackson klar gewesen. Deswegen hat er mit dem Orkhäuptling Azog einen alternativen Widersacher geschaffen und alles einfach zwei bis drei Nummern größer aufgezogen. Das funktioniert bislang recht gut.

Hatte schon der "Herr der Ringe" eine klare Trennung zwischen Buch und Film definiert, so geht der "Hobbit" noch einen Schritt weiter. Indem Jackson Tolkiens Werk dermaßen opulent inszeniert, schafft er ein Abbild der Welt von Tolkiens "Hobbit", das zwar auf dem Buch basiert, aber vollkommen parallel zu ersterem stehen kann und muss. Beide Welten funktionieren separat und können einander auch stützen oder erklären. Sie sind untrennbar miteinander verbunden und dennoch vollkommen unterschiedlich: die Kluft zwischen Buch und Text ist gigantisch. Allein schon mit den ihm zur Verfügung stehenden digitalen Technologien hat Jackson den "Hobbit" auf eine neue Ebene gebracht. Und das Modell der zwei Welten hat Vorteile, denn es wird den Buchpuristen ebenso gefallen wie den Cineasten. Der gemeinsame Nenner ist groß. Die Zukunft wird zeigen, ob die Zwei-Welten-Theorie Bestand hat ob sie als Modell für spätere Verfilmungen ganz anderer Art dienen kann.

Genügend Potenzial hat sie auf jeden Fall.