Zeitenwende, oder: Corona

Es fühlte sich nach Abschied an, als am vergangenen Samstagabend eine Handvoll Hannohirrim beim Abendessen in einem fast leeren Restaurant beisammen saß. Als könne man noch einmal feiern, anstoßen und fröhlich beisammen sein. Eine Zäsur?

Von Uli Hacke

Derzeit gibt es nur ein einziges Thema. Es ist unmöglich, daran vorbeizukommen und es betrifft einen jeden von uns. Das Coronavirus ist aus der Sphäre der Nachrichten in unser Privatleben gesprungen. Während wir uns noch an das Altbekannte und das Normale zu klammern versuchen, ahnen wir tief drinnen längst, dass da noch viel mehr kommen wird. Das kann richtig Angst machen. Aber: als mehr oder weniger literarisch geprägte Menschen wissen wir, dass Angst auch zu großen Taten anspornen kann. Man schaue nur auf die Hobbits und ihre Abenteuer, die im Vergleich zu unserer Situation doch viel schlimmer dran waren und die nun wirklich allen Grund zur Panik hatten. Da lässt sich doch bestimmt eine Parallele ziehen.

Nun ist das mit literarischen Vergleichen stets eine gewagte Sache, vor allem im Bereich der Fantasy, wo es ja in der Regel um den epischen Kampf zwischen Gut und Böse geht. Und es wäre vermessen und naiv, das Virus mit einer Armee der Finsternis im Auftrage eines Dunklen Herrschers gleichzusetzen, obschon die rasante Ausbreitung des Erregers durchaus etwas von einer militärischen Operation hat, die mit peinlichst penibler Effizienz durchgeführt wird. Das eben ist die Stärke der Natur in all ihren Facetten, die auf das Überleben gepolt ist und dafür bis zum Letzten kämpft. Wir Menschen sind da schließlich nicht anders, nur dass wir dazu auch Vernunft und Reflektion anwenden können, was einem Virus nicht gegeben ist. Ebenso wenig es von irgend etwas gesteuert, wie so manch einer - aus dubioser Quelle wissend - in den sozialen Netzwerken zu verbreiten dachte.

Unbeachtet dieser einleitenden Worte kommt mir in der momentanen Situation am ehesten eine Szene aus dem "Herrn der Ringe" in den Sinn, die zumindest ein gewisses Gefühl einfangen kann: Gandalf und Pippin sind nach langen Ritt auf Schattenfell in der Königsstadt Minas Tirith in Gondor eingetroffen und wurden vom Truchsess Denethor in seiner Halle empfangen. Nach einem vor allem für den Hobbit schwierigen Gespräch mit unerwarteter Dienstverpflichtung sitzt derselbe mit Beregond, Baranors Sohn, auf der Festungsmauer und blickt auf den Pelennor hinunter.

Die Szenerie, die sich hier vor Pippins Augen auftut, läuft in atemberaubenden Tempo ab, galoppierende Reiter sind auf und ab der großen Hauptstraße zu sehen, der Verkehr stockt, große bedeckte Wagen sind nach Süden unterwegs. Doch das scheinbare Chaos ist wohlgeordnet, es muss Anweisungen geben, nach denen sich alle richten. Drei Wagenreihen sind es, die sich nebeneinander bewegen. Wo keine Ochsen bereitstehen, ziehen Männer mühselig die Wagen.

Es sind nicht länger Plänkeleien, stellt Beregond fest. Jetzt sollen alle Reiche auf die Probe gestellt werden. Auch bei uns ist klar: die Zeit der Witzeleien und lockeren Sprüche ist abgelaufen - die Lage ist absolut ernst. Ein ganzes Land, oder besser ein ganzer Kontinent wird auf den Prüfstand gestellt. Wie verhalten sich die Gesellschaften? Wer schenkt wem Glauben und vertraut den Maßgaben der Regierenden oder unternimmt liebe der Alleingang, ohne sich um andere zu kümmern? Wie ist es um unsere Empathie und Solidarität bestellt? Da ist man in Minas Tirith schon weiter - Einzelgänger, die nur an sich denken, kommen nicht vor.

Was bleibt, ist die Ruhe vor dem Sturm, das "Atemholen vor dem Absprung" (wie Beregond es ausdrückt). Während wir noch dabei sind, die Ereignisse der letzten Tage zu verkraften, ist längst neues eingetreten. Wir müssen laufen, um mit der Geschichte Schritt zu halten. Ganz allmählich wird uns klar, dass wir nicht mehr in einem schlecht gemachten Katastrophenfilm in einem Großraumkino sitzen. Es sind keine fiktiven Charaktere oder heldenhafte Figuren, sondern wir selbst sind es, die mit der Krise klarkommen müssen. Es ist eine gewaltige Herausforderung mit unglaublich vielen persönlichen Einschränkungen und Nachteilen. Aber auch eine ungeheure Chance für die Gesellschaft. Stärke, Geschlossenheit, gemeinschaftliches Handeln, Rücksichtnahme - das gilt es nun nicht mehr zu demonstriere, sondern umsetzen. Es liegt an uns.

Oder noch mal Beregond: "Denn wenn wir fallen, wer soll dann standhalten?"